Februar

Hildegard von Bingen

Liber Divinorum Operum • 1.Teil, 4.Vision

Der zweite Monat ist seinem Wesen nach reinigend und wird in den Augen versinnbildet. Denn wenn die Augen wässrig, unrein und krank sind, reinigen sie sich bisweilen selbst.

So ist auch die Seele im Menschen wie Saft im Baum. Dann wie durch den Saft alle Früchte des Baumes wachsen, so werden auch durch die Seele alle Werke des Menschen in die Tat umgesetzt. 

Wenn dann die Adern und das Mark des Menschen reif sind, beginnt er nach dem Verlangen des Fleisches zu handeln. Wenn er das getan hat, seufzt er oft auf, gezwungen vom geistigen Wesen seiner Seele. …

Januar

Hildegard von Bingen

Liber Divinorum Operum • 1.Teil, 4.Vision

Der erste Monat, in dem die Sonne wieder steigt, ist kalt und feucht. Er ist voller Widerspruch und schwitzt Wasser aus, das sich in das Weiß des Schnees verwandelt hat.
Daher werden seine Eigenschaften mit dem Gehirn verglichen. Auch es ist kalt und feucht und reinigt sich, indem es wertlose Flüssigkeit durch Ohren und Nase ausscheidet.

So wirkt auch die Seele mit Freude in der Kindheit des Menschen, die weder Arglist noch fleischliches Begehren kennt und die Seele nicht antreibt, gegen ihre Natur zu wirken. Die Seele ist in der Kindheit, die ihrem eigenen Sehnen nach einfach und unschuldig ist, stark und mächtig.
Später aber, wenn sie die Freude über die kindliche Unschuld entbehrt, wird sie in große Traurigkeit gestürzt, wie ein Fremdling, der aus seiner Heimat vertrieben ist.
Denn die Körpersäfte im Menschen nehmen jetzt zu, er selbst wird von der Fleischeslust befleckt, liebt die Leichtfertigkeit und damit die Gottvergessenheit und findet Freude und Lust an der Tischgesellschaft der Sünder.

Wie nämlich die Sonne sich im ersten Monat wieder erhebt, so ist die Seele im frühen Lebensalter weder gebunden noch verfinstert durch die Lust und Auswirkung der Sünden.
Durch sie wandelt der Mensch mit dem widersprüchlichen Verhalten seiner Unbeständigkeit in die Verhärtung von Niedertracht und Eitelkeit, da ihm die Heiligkeit des rechten Handelns fehlt.
Aber wenn dieser Mensch durch die Belehrungen und Ermahnungen des Heiligen Geistes Tränen vergießt, wird er mit dem süßen Duft des guten Rufes vom Gestank seiner Sünden gereinigt, weil er Unkenntnis und Widerwillen gegen gute Werke meidet.

Dezember

Hildegard von Bingen

Liber Divinorum Operum • 1.Teil, 4.Vision

Der zwölfte Monat hat starke Kälte. Er lässt die Erde gefrieren, bedeckt sie völlig mit dem Schaum der Kälte und macht sie abstoßend und beschwerlich.
Deswegen werden mit seiner Eigenschaft die Füße des Menschen bezeichnet, die sehr vieles zertreten und breittreten und die Erde eindämmen. Sie können sich auch nicht von der Erde in die Höhe heben, sondern stehen auf ihr. …
Denn wie der Körper nach dem Scheiden der Seele ohne jede Wärme ist und kalt bleibt, so vergisst ohne die Wärme der Gaben des Heiligen Geistes die Seele, in Zorn verhärtet, ihr Wesen. … Denn im Zorn fließt das Blut des Menschen über. So wird der selbst seiner gesunden Sinne beraubt und sozusagen wahnsinnig. …

November

Hildegard von Bingen

Liber Divinorum Operum • 1.Teil, 4.Vision

Der elfte Monat neigt sich und baut die Kälte auf. Er zeigt an sich nicht die Freude des Sommers, sondern die Traurigkeit des Winters. Kälte bricht aus ihm über die Erde und lässt sie Schmutz aufwühlen. Das macht auch der Mensch nach, wenn er sich zusammenkauert, damit ihn die Kälte nicht durchdringt. Daher häuft er auch, wenn er seine Knie in Traurigkeit beugt, in seinem Herzen schmerzliche Gedanken auf, hält sich gleichsam für Schmutz und hat keinen Blick für die Freude. … 

Oktober

Hildegard von Bingen

Liber Divinorum Operum • 1.Teil, 4.Vision

Der zehnte Monat gleicht einem sitzenden Menschen, weil er nicht mit seinen Kräften in Grünkraft auffliegt. Er bringt auch keine Wärme, sondern entblättert die Äste der Bäume und schickt Kälte aus.

So krümmt sich auch der Mensch im Sitzen zusammen, um der Kälte zu entgehen. In diesem Monat zieht er auch seine Kleidung fest an sich, weil er dann durch seine Bekleidung Wärme hat. So ist auch der Mensch, wenn er im Greisenalter zu frieren beginnt, weiser geworden als früher. Er hat die Lebensart der Jugend satt, lässt das Schwanken zwischen zügellosem und törichtem Verhalten in diesem Alter austrocknen und meidet die Gesellschaft der Toren, damit sie ihn nicht mit ihrer Unwissenheit täuschen.